Geborgen im Elfenhaus

Wie die Berliner Künstlerin Simone Elsing mit tonnenschweren Marmor-Skulpturen den gestressten Zivilisationsmenschen Kraft gibt und triste Orte zu Räumen für Kopf, Herz und Sinne macht.

 Schon als Kind hatte Simone Elsing am eigenen Leib erfahren, was Magie bewirken kann. „Es kribbelte auf meiner Haut, wenn eine Form stimmig mit dem Inhalt war. Ich spürte, wenn etwas in sich vollkommen ist“, sagt die schlanke, groß gewachsene Frau. Zärtlich streicht sie mit der Hand über die glatt polierte Oberfläche der überlebensgroßen Statue der Heiligen Elisabeth, die sie in monatelanger Arbeit gefertigt hat. Licht reflektiert auf der überlebensgroßen Skulptur aus lachsfarbenem Marmor und lässt diese durchscheinend wie Glas erscheinen.

„Bisher war Heiligkeit für mich nur ein Wort, jetzt weiß ich, wie es sich tief im Innersten anfühlt,“ sagt ein Mann sichtlich berührt beim Betrachten des Kunstwerkes. Die Figur zeige, dass es Gott gibt.

Eine Pilgerstätte für alle Arten von Heilsuchenden ist das Foyer des Essener Elisabeth-Krankenhauses inzwischen geworden, weil das 1,5 Tonnen schwere Kunstwerk nicht nur den Patienten hier wortlos vermittelt, gut aufgehoben und behütet zu sein. Kunst, die berührt und heilen soll – eine sanfte Psychotherapie über die reine Ausstrahlungskraft der Form und über das himmlische Material Marmor mit seinen seit hunderten Millionen Jahren gespeicherten Urinformationen der Natur.

Für die Betreiber des Krankenhauses verkörpert die Statue vor allem visuell und symbolisch den Auftrag und das Leitbild des Hauses. Die Skulpturen, Raum- und Außengestaltungen von Simone Elsing sind inzwischen ein von vielen großen Unternehmen geschätzter Weg, ihre Visionen über die Sprache der Kunst den Kunden zu vermitteln sowie die atmosphärischen Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter positiv zu unterstützen.

Die Werke der Künstlerin stehen in vielen Städten im öffentlichen Raum und heißen „Licht“, „Toleranz“ oder „Freiheit“ – ein Stein erzählt vom „Geheimnis weiblicher Kraft“. Aus einem fünf Tonnen schweren Marmorfels schuf Elsing das Werk „Elfenhaus“. In diesem kann sich der Betrachter in eine kleine Höhle einkuscheln und ein Gefühl tiefer Geborgenheit erfahren. Im Foyer des Essener Rathauses symbolisierte das „Elfenhaus“ ein kleines beschützendes Haus für die Menschen in einer großen Stadt und zog erstaunte und neugierige Blicke der Stadtpolitiker und Bürger auf sich.

Die gigantischen Steine für ihre Skulpturen sucht sich die Künstlerin in den Marmorbergen Portugals oder Griechenlands selbst aus. Sie lässt sich inspirieren vom Bild der Skulptur, das sie in sich trägt und dem Charakter und der eigenwilligen Schönheit der so archaisch anmutenden Mammut-Quader.

„Ergriffenheit lässt uns heil werden“, sagt die in Essen geborene und in Berlin lebende Bildhauerin. Sie scheint ein untrügliches Gespür für die Kraft der Form zu haben, dafür, welche Kraft sich in welcher Form ausdrückt. Es ist, als ob sie die Vollkommenheit einer Form ertasten würde. Sie sagt: „Ich arbeite so lange, bis ein inneres Spürorgan sagt, jetzt stimmt es.“ Grazil wirkt sie, fast zerbrechlich – keine Walküre, der man zutrauen würde, tonnenschwere Marmor-Kolosse mit Hammer, Meißel, Steinsägen oder Diamantenschneider zu bearbeiten und daraus Kunstwerke zu kreieren, die spürbar unter die Haut gehen.

„Die harte Arbeit an den Skulpturen, hat mir deutlich gemacht, dass ich von Natur aus nicht den Körper für die Steinbildhauerei habe“, sagt die freischaffende Künstlerin ruhig, „aber ich habe einen starken Willen und ein klares Vorstellungsvermögen.“ Dazu gehört, dass sie Unsichtbares, ewig Gültiges, in das Sichtbare bringen will. Mit feinen Sensoren scheint sie genau den Moment zu fühlen, da die unsichtbare Kraft für die Augen sichtbar wird.

„Es gibt nur wenige wirklich wichtigen Dinge in unserer Existenz“, sagt Elsing. Mit ihrem mehrdimensionalen Empfinden schafft sie eindringliche Symbole für schützenswerte, ur-menschliche Grundbedürfnisse wie die Sehnsucht nach Liebe, Geborgenheit, Ganzheit oder Harmonie, die im angst- und stresserfüllten Alltag des heutigen Zivilisationsmenschen sooft zugeschüttet werden. In ihrer Bilderwelt destilliert sie solange, bis der Extrakt in den Marmorblöcken übrig bleibt.

Zentriert auf das Wesen der Sache holt die Künstlerin die existentiellen Dinge, die den Menschen erst zum Menschen machen, mit ihren eindrucksvollen Arbeiten wieder hervor. Sie erinnert an die tiefere Schönheit der Dinge, „an unser Herz, unsere Wahrhaftigkeit jenseits von Rollen und Fassaden“.

Erinnere dich – in diesem Wort ist für sie alles Wesentliche enthalten. Die Erinnerung an den eigenen inneren Raum, daran, dass „du schon bist, wonach du in deinem Leben auf vielerlei Weise gesucht hast“. Die Erinnerung daran, wie der Geschmack der Stille ist und der des Friedens. Es ist die Erinnerung an eine vergessene Sprache. Simone Elsing kostet es dabei immer wieder viel Mut, das Innerste nach Außen zu kehren und es sichtbar zu machen: „Aber nur so kann ich das Herz des Betrachters wirklich erreichen“.

Weil Kunst für Simone Elsing kein schmückendes Beiwerk für eine elitäre Minderheit ist, verlässt sie nur allzu gerne ihr Atelierhaus am Stadtrand von Berlin, um triste, fast ausschließlich funktional ausgerichtete Orte in verschiedensten Institutionen und Unternehmen weltweit „zu Räumen für Kopf, Herz und Sinne“ umzugestalten. Sie will die verblüffende atmosphärische Wirkung ihrer Skulpturen auf nüchterne, oft öde Räume übertragen. Nein, eine Innenarchitektin ist sie nicht, eher schon eine Raumatmosphären-Gestalterin der besonderen Art.

So lässt sie beispielsweise in den sterilen Sitzungssälen des weitflächigen Essener Berufsförderungs-Zentrums die rechten Winkel des Raumes hinter einer sternförmigen Verkleidung verschwinden. Und sie lässt Bergkristalle aus den Wänden wachsen. Ein Skulptur, die in einem Halbkreis aus Marmorsteinen steht, zentriert den Raum. „Das Ergebnis einer Konferenz“, sagt Elsing, „wird ein anderes sein, wenn mein Blick zwischendurch auf eine Skulptur oder einem Bergkristall ruht und ich mich davon inspirieren lasse, als wenn ich auf eine weiße Wand oder einen Computer schaue.“

„Selbst schwierige Verhandlungen zu Wirtschaftsplänen oder Tarifgesprächen wurden durch die wohltuende und entspannende Raum-Atmosphäre unterstützt. Die Wechselwirkung zwischen Umgebungssituation und dem Umgang miteinander sind frappierend und ökonomisch im Umgang mit Zeit- und finanziellen Ressourcen“ sagt der damalige Vorstands-Vorsitzende des Zentrums Norbert Meyer.

Die Umgebung unterstützt oder hemmt die Kreativität oder das Wohlbefinden. Einen 100 Meter langen von Neonröhren beleuchteten, hässlichen Büroflur, dessen Seiten nur unterbrochen waren von Betonsäulen und Türen, verwandelt Simone Elsing mit Hilfe von Licht, kräftiger blauer Farbe und neun Tonnen links und rechts wellenförmig zu Halbinseln ausgelegten Steinen in eine Flusslandschaft. Rankpflanzen verwandeln die Feuerschutzwände zu grünen Toren.

Eine Cafeteria macht die nimmermüde Atmosphäre-Schafferin zu einem beliebten Erholungsort. Pflanzen und Steine, in organischen Formen angeordnet, spenden Lebendigkeit und Kraft. Der Kies knirscht unter den Füßen, gibt nach, weckt Assoziationen von Strand und Natur. Eine Säule wird zum Mittelpunkt des Raumes gewandelt: Flügel aus tanzenden, frei beweglichen Federn heben den Raum in Leichtigkeit, das Purpurrot verströmt seine Wärme. Das Licht zeichnet alle Formen nach und hebt sie hervor.

„Ich arbeite bei meinen Gestaltungen mit Farben, Formen, Skulpturen, Licht und natürlichen Materialien, die unsere Sinne und unser ganzes Sein ansprechen“, sagt Simone Elsing. „Menschen haben ein feines Gespür dafür, ob man ihnen nur für den optischen Reiz beispielsweise eine künstliche Pflanze hinstellt oder ob sie ein lebendiges Wesen, das atmet und wächst, neben sich fühlen.“

So weckt die Künstlerin positive Lebensgefühle, macht Räume und nüchterne Betonklötze lebendig. Die neue Ausstrahlung soll den darin Arbeitenden und den Besuchern eine tiefe Wertschätzung vermitteln, die Kommunikations- und Dialogbereitschaft sowie die Kreativität fördern. Im Essener Berufsförderungs-Zentrum, in dem jeden Tag rund 2.000 Menschen arbeiten und sich weiterbilden, sind die positiven Ergebnisse des umgestalteten Lebensumfeldes längst auch am ökonomischen Nutzen messbar. So ist der Vandalismus deutlich zurückgegangen, die Kosten für die Reinigung und Renovierung konnten halbiert werden. Inzwischen hat sich Simone Elsings arbeits- und lebensverändernde Kunst weltweit herumgesprochen: Anfragen kommen aus Australien ebenso wie aus den arabischen Staaten am Golf oder Süd-Korea.

Den Begriff „Kunst am Bau“ hört Simone Elsing nicht so gerne, sie nennt ihr künstlerisches Schaffen stattdessen „Kunst am Menschen“. Und da hat sie immer wieder neue Inspirationen, um diesen Menschen bewusst noch stärker mit der universellen Kraft zu verbinden und ihn zu erwecken. So schafft sie neuerdings aus mehr als sieben Tonnen schweren und drei Meter hohen portugiesischen Marmorquadern

gleichartige Skulpturen mit dem Namen „Königssitz“, in die der Betrachter sich hineinsetzen kann.

Die Werke sollen an die ungeheure Gestaltungskraft des Menschen erinnern. „Wenn wir unsere Verbindung zu Himmel und Erde in uns wahrnehmen, sind wir in einen kreativen Fluss eingebunden“, sagt Simone Elsing.

Und sie fügt mit strahlenden Augen hinzu: „Wir sind dann bewusst Schöpfer unserer eigenen Wirklichkeit“.

Und wieder spürt sie dieses Kribbeln auf der Haut, diese Kraft der Magie, die sie bereits als Kind erfahren hat.