In Sekundenschnelle bringt Martin Krumbeck das Problem auf den Punkt. Mit einer Strom leitenden Nadel findet er unterhalb der Gesäßfalte seines Patienten den geplagten Ischias-Nerv. Millimetergenau zeichnet der Chefarzt der renommierten deutschen Schmerzklinik den Verlauf des Nervs mit einem Stift auf der Haut nach, bevor er sich vorsichtig zu seinem Ziel vortastet.
Dann führt er durch die Nadelspitze direkt neben den Schmerzleiter einen dünnen Kunststoffschlauch, durch den ein örtlich wirkendes Betäubungsmittel geleitet wird. Weil der Oberschenkel des Patienten abgebunden ist, sucht sich das Anästhetikum seinen Weg nach oben zum Punkt der Schmerzauslösung am Rückenmark. Um das Schmerzgedächtnis im übererregten Nerv auf Dauer zu löschen, wird der Katheter alle vier bis sechs Stunden mit dem Mittel aufgefüllt.
Schon bald erhellen sich die Gesichtszüge des von Krumbeck behandelten Patienten: „Unbeschreiblich, wenn plötzlich der Schmerz weg ist“. Da das Betäubungsmittel auch zu einer lokalen Mehrdurchblutung der Gefäße führt, meldet sich der Schmerz nach Ende einer mehrwöchigen Spritzen-Kur bei ihm nicht wieder.
Im Mekka der europäischen Schmerztherapie gehören solche Erfolge inzwischen zum Alltag. Denn die in der Spezial-Klinik im württembergischen Kurstädtchen Bad Mergentheim perfektionierte „periphere Regionalanästhesie“ sorgt vor allem bei chronischen Schmerzpatienten oft nach Jahren des Leidens für eine längst vergessen geglaubte Lebensqualität.
Die weltweit einzigartigen Nervenblockaden bilden indes nur ein kleines Teilchen im Puzzlespiel der modernen Schmerztherapie in Deutschlands Schmerz-Spezialklinik Nummer eins. Neben der Tabletten-, Operations- und Spritzenmedizin rücken verstärkt psychotherapeutische Verfahren und geistige Entspannungstechniken in den Vordergrund – die Experten wollen nicht nur Symptome lindern, sondern auch den Ursachen des Urschreis von Körper und Geist auf die Spur kommen.
Denn chronische Schmerzen sind neuesten Erkenntnissen nach häufiger als bisher geglaubt Ausdruck von seelischen Qualen, die nicht bearbeitet wurden. „Der Körper signalisiert uns damit oft ungesunde Denk- und Verhaltensstrukturen“, sagt Krumbeck, der mit seinem so genannten „multimodalen Therapiekonzept“ auch international gesehen verblüffende Heilerfolge aufweisen kann.
Die ganzheitliche Mischung aus gezielten Nervenblockaden, speziellen Psycho-Verfahren, Akupunktur, Physiotherapie, Naturheilverfahren, sowie Massagen und Ernährungstherapie sorgt inzwischen dafür, dass viele Patienten ihren grausamen Wegbegleiter loswerden – bis vor kurzem kaum für möglich gehaltene Erfolge.
Die einzigartige, im Schnitt sechs bis acht Wochen lange Intensivkur ist gefragt wie kaum ein anderes medizinisches Angebot: Immerhin gibt es zwischen Nordsee und den Alpen 7,5 Millionen Menschen mit chronischen Schmerzen, Tendenz stark steigend. Ihre Unterversorgung ist nach wie vor erschreckend und macht Deutschland zu einem Entwicklungsland in diesem Fachbereich. Statistisch gesehen landen die gepeinigten Patienten erst nach einer Odyssee von zehn Jahren und drei unnötigen Operationen in einer der wenigen Spezial-Kliniken des Landes.
„Die Schulmedizin steht dem Mysterium Schmerz noch immer fast hilflos gegenüber“, meint der einheimische Schmerz-Guru, Professor Rolf Leeser, der zwei schmerztherapeutische Einrichtungen leitet. Weil die Beschwerden für rationale Mediziner kaum zu definieren und objektiv einzuordnen seien, werde nur allzu gern „wild drauflos operiert oder dem Patient gesagt, er bilde sich den Schmerz doch nur ein“.
Angetrieben wird die Schmerz-Spirale von geistigem und körperlichem Bewegungsmangel und immer stressiger werdenden Lebensumständen in Familie und Beruf – diese schüren Existenzängste und lassen das Nervensystem ausbrennen. „Oft werden dadurch gutartige Schmerzen zu einer anhaltenden Qual“, sagt Leeser.
Die 47jährige Münchnerin Waltraud Merz weiß ein trauriges Lied über diese verschlungenen Pfade des menschlichen Geistes zu singen. Täglich hatte die Architektin immense Kopfschmerzen, die sie auf ihrem Höhepunkt in die Verzweiflung trieben. Tagelang lang war sie dann nicht ansprechbar, verkroch sich vor dem durchdringenden Stechen in ihrem Kopf unter ihre Bettdecke. Sie pilgerte von einem Arzt zum anderen und nahm täglich Schmerzmittel gleich im Dutzend. Die Nebenwirkungen waren Erschöpfungszustände, die einen normalen Alltag erst recht nicht möglich machten und den hilflosen Zorn auf ihren Körper noch weiter wachsen ließen.
Der jahrelange Teufelskreislauf fand erst in der Bad Mergentheimer Klinik sein Ende. In der zweimonatigen Kur erkannte die Architektin verblüfft, dass ihre Schmerzzustände eine unterbewusste Selbstverteidigung waren. „Als Perfektionistin war ich bei meiner Arbeit immer wieder über meine eigenen Grenzen gegangen. Ich brauchte dringend Abstand und Ruhe, wusste aber nicht, wie ich sie mir legitim verschaffen sollte.“
Der Schmerz gab schließlich den Grund, sich zurückziehen zu dürfen. „Zudem“, so die Münchnerin ironisch, „konnte ich endlich meinen ,gefühllosen´ Mitmenschen, die mich so unter Leistungsdruck setzten, zeigen, wo meine Grenzen sind…“
Vor diesen bitteren Selbsterkenntnissen musste die aufgeschreckte Patientin freilich erst in eine dreitägigen Schlafkur, um wieder ihren Grundrhythmus zu finden. In der Verhaltenstherapie wurden ihr dann ihre erstarrten Denkmuster bewusst, sowie der indirekte Profit, den sie aus ihren Schmerzanfällen gezogen hatte – und auch wie oft sie im Leben die Mitleidskarte gespielt hatte.
„Heute weiß ich, dass ich mehr auf meine Bedürfnisse hören und auch mal nein sagen muss. Die Schmerzen sind jetzt wie weggeblasen – ich kann endlich wieder ohne Pein leben“. Um das Schmerzgedächtnis endgültig zu löschen, spritzt Chefarzt Krumbeck an sechs Kopf-Punkten mehrere Tagen hintereinander ein spezielles Betäubungsmittel in die einst so störrischen Nervenenden.
Für den 43jährigen Mediziner geht es bei Rundumbetreuung in der Körper/Geist-Klinik im Württembergischen um das sanfte Entfernen von Blockaden, die durch Ängste und negative Konditionierungen einen dicken Mantel um den Wesenskern der Patienten gelegt haben. Das wichtigste, so Krumbeck, sei die Bewusstwerdung alter, ungesunder Schemata und eine Neuprogrammierung auf allen geistigen und körperlichen Ebenen.
Und so läuft unter Hypnose, auf Phantasiereisen oder beim Körperwahrnehmungs-Training die De-Automatisierung auf vollen Touren. Es ist die Suche nach der eigenen inneren Geografie. „Ob es sich um unterdrückte Aggressivität, übertriebenen Perfektionismus, fehlendes Selbstwertgefühl oder Versagensangst handelt, der Patient soll erkennen, welche krankmachenden Fehlstrategien er sich im Laufe der Zeit angeeignet hat“, sagt der Psychologe Martin Krebs.
Dann führt er einen 35jährigen chronischen Rückenschmerzpatienten mit leisen Worten auf eine Hypnosereise. Es ist ein Polizist aus Köln, der bei der Arbeit gemobbt wird, weil er wegen seiner Schmerzen nicht mehr in den Streifenwagen kommt. Auf seinem Imaginations-Trip lernt der Mann sich gedanklich und gefühlsmässig von seinem Dauerschmerz zu lösen. Seine festgefahrenen Denkweisen des Versagens stehen in der Hypnose plötzlich in einem neuen Bezugsrahmen – er kann seine Wirklichkeit neu interpretieren.
Der Polizist sitzt in einer „Metaposition“ hoch oben auf dem Gipfel eines Berges und sieht seinen Schmerz weit unter im Tal. Eine Stunde ist er nicht an seinen Feind gekoppelt. So kann sich sein verzerrter Geist erstmals seit langer Zeit wieder entspannen.
Von Sitzung zu Sitzung rückt der Schmerz weiter weg und damit auch die Angst, von den Kollegen nicht mehr als „ganzer Mann“ wahrgenommen zu werden. Schon nach wenigen Kurwochen verschwinden seine Schmerzen schließlich wie ein verblassender Alptraum. „Ein Wechsel der Perspektive“, erklärt Psychologe Krebs den Hintergrund des raschen Heilungsprozesses, „kann die geistige und körperliche Wirklichkeit ändern.“
Auch mit mentalen Methoden der Rückkoppelung kann das Gefühl vieler Patienten, dem Schmerz ohnmächtig ausgeliefert zu sein, schnell gedreht werden. Eine 51jährige Bank-Angestellte, die unter schweren Verspannungen und Muskelschmerzen leidet, lernt überrascht die Macht ihrer Gedanken über ein Computerbild kennen. Elektroden an Stirn und Nacken übertragen ihre mentalen Signale als Verlaufskurve auf ein Biofeedback-Gerät.
Wenn sie an ihre Angst denkt, in der Bank gekündigt zu werden, richtet sich die Linie nach oben. Die entspannte Vorstellung vom Strandleben in Mallorca mit ihren Kindern drückt die Kurve prompt wieder nach unten. Körperfunktionen wie Puls und Blutdruck richten sich nach ihren Gedankenbildern und den damit verbundenen Emotionen. „Ich weiß jetzt, dass ich mein Befinden selbst steuern kann und meinen Existenzängsten nicht hilflos ausgeliefert bin“, meint die Frau.
Viele Patienten halten freilich fast wie besessen an ungesunden Uralt-Mustern fest und scheuen den Gang zum Psychologen. „Die Angst ist groß, als verrückt erklärt und in die Psycho-Ecke abgeschoben zu werden“, meint Chefarzt Krumbeck. Wenn der Schmerz einmal zum Lebensinhalt geworden ist , kann sich der Betroffene nur noch schwer für andere Aspekte seines Wesens öffnen. Der unbarmherzige Nervenkitzel dient dann als Fluchtmöglichkeit vor dem wahren Leben. Mit viel Einfühlungsvermögen müssen so die Psychologen bei einem großen Teil ihrer Schutzbefohlenen den lange schon tief verschütteten Willen zur Veränderung wieder freischaufeln.
Wie stark dieser Wunsch sein kann, beweisen immer wieder beeindruckende Lebensgeschichten, wie die der Stuttgarter Krankenschwester Astrid Zirmer. Bei der Mittfünfzigerin spielte nach einem Armbruch der Körper verrückt – der betroffene Arm schwoll um das mehrfache seiner ursprünglichen Größe an und wollte nicht mehr heilen. „Die Schmerzen waren kaum zu ertragen“, erzählt die Frau. Schließlich verlor sie ihren Job, ihre Familie zerbrach und auch ihr Selbstbewusstsein.
Erst in der Klinik in Bad Mergentheim erkannte sie, wie lange sie sich der Zuwendung anderer Menschen für nicht würdig erachtet hatte. Der selbst auferlegte Liebesverzicht ist ein typisches Muster für Schmerzpatienten – werden doch neuesten Studien nach Schmerzen in den gleichen Gehirnzentren verarbeitet wie das Gefühl, aus der Gruppe ausgeschlossen zu sein.
In einer zehnwöchigen Intensivkur lernte Astrid Zirmer sich aus ihrer unbewusst selbst geschaffenen Isolation zu befreien. „Ich kroch langsam wieder aus meinem Schneckenhaus, lernte Streicheleinheiten wieder annehmen zu können und meinen Alltag auch mit einem Arm zu bewältigen“. Fast am meisten freut sie sich aber darüber, dass sie als Lehrkrankenschwester auch im Beruf wieder eine neue Perspektive hat.
Für den Klinik-Chef gehören solche Erfolggeschichten zum Höhepunkt seiner Arbeit. „Es gibt für mich kein schöneres Geschenk“, so Schmerz-Experte Martin Krumbeck, „als zu sehen, wie Menschen auch in scheinbar hoffnungsloser Lage wieder zu ihrem Licht finden.“